Vor rund zwei Monaten noch schien die Armee Baschar al-Assads der Lage in Syrien Herr zu werden. Zu schwach war die aufständische Freie Syrische Armee und die kleinen lokalen Milizen. Doch inzwischen scheint sich zu bewahrheiten, was viele Beobachter des Konfliktes lange befürchtet haben, nämlich eine massive Radikalisierung und Konfessionalisierung. War es einst eine gesamtsyrische Bewegung, die neben der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit auch Alawiten, Christen und Drusen umfasste, so ist dieses anfängliche Erscheinungsbild längst einem oftmals radikalisamischen gewichen. Doch diese Hinwendung eines großen Teiles der bewaffneten Opposition zu konservativ-islamischen Positionen scheint auch eins mit sich zu bringen: Stärke.
Längst bekommen Assads Truppen weite Teile des Landes nicht mehr unter ihre Kontrolle, kann der Präsident nicht mehr von einer terroristischen Minderheit sprechen, die man schnell besiegen könne. Es war ein massiver Schlag gegen das syrische Baath-Regime, als eine Autobombe bei einem Treffen der syrischen Führung einige der engsten Vertrauten Assads tötete. Zu den Opfern gehörte unter anderem der syrische Verteidigungsminister Dawud Radscheha. Später wurde bekannt, dass auch der Innenminister Muhammad Ibrahim ash-Shaar, der Sicherheitsberater des Prästidenten Hassan Turmani und der Schwager Baschars, Assaf Schawkat, getötet wurden. Zeitgleich begannen Angehörige der FSA und Milizen mit der Eroberung ganzer Stadtteile von Damaskus, die jedoch nach und nach wieder aufgegeben werden mussten. “Taktische Rückzüge”, wie Rebellensprecher verlauten ließen.
Doch könnte dies nach den militärischen Entwicklungen der letzten Tage auch eine Art Ablenkungsmanöver gewesen sein. Um die eigene Schlagkraft zu optimieren formierten zahlreiche Milizen eine Einheitsbrigade, Lawa’u t-Tawhid, nicht aber um Damaskus eventuell in einem Handstreich nehmen zu können. Die Aufmerksamkeit der Rebellen richtete sich vielmehr auf Aleppo, Syriens Wirtschaftsmetropole und damit auch Herzstück der staatlichen Ordnung. Wie geschwächt Syriens Militär ist, beweist gerade die Lange in und um Aleppo. Direkt nach der auf Video festgehaltenen Gründungserklärung der Einheitsbrigade springen hunderte Kämpfer, mit weißen Flaggen und den Worten “Allahu akbar” (dt. Gott ist größer, bzw. Gott ist am größten), auf Minibusse und Autos und fahren in Richtung Stadt, in Richtung Front. Und das alles völlig unbehelligt von Assads Armee. Keine Luftaufklärung, keine Schüsse, nicht einmal ein kleiner Versuch diese, im Vergleich zu Assads Truppen schlecht ausgerüsteten Milizen, am Betreten der Stadt zu hindern.
Kurze Zeit später kämpft sich die Liwa’u t-Tawhid Gasse um Gasse Richtung Stadtkern. Auf den Straßen sind ausgebrannte Panzer der regimetreuen Kräfte zu sehen, Soldaten und Schabiha-Milizen die vor der FSA fliehen. Bis zu 70 Prozent von Aleppo sind angeblich schon unter Kontrolle der Aufständischen, in den Vierteln wehen die grün-weiß-schwarzen Farben der Revolution. Für den heutigen Samstag rüstet sich Assad zu einer Gegenoffensive, während die Rebellen ihrerseits versuchen mit circa 4000 Kämpfern möglichen Rückeroberungsversuchen zu trotzen. Dutzende Schabiha-Milizen und Regierungstruppen konnten gefangen genommen werden, einige von ihnen weisen Folterspuren auf.
Viele Kämpfer haben Tücher um den Kopf gebunden, die das muslimische Glaubensbekenntnis zeigen. Ein Beweis für die Konfessionalisierung der Kämpfe, die Baschar al-Assad wohl kalkuliert hat, wie auch die alawitische Oppositionelle Fadwa Suleiman meint. So wollte er die Bewegung schwächen und aus der anfänglichen Verleumdung, es handele sich hierbei um al-Qaida, wahre Zustände machen. Assad sollte somit unverzichtbar werden in einem Kampf gegen Terroristen. Doch dies könnte ihm jetzt zum Verhängnis werden, sollten diese Kräfte tatsächlich triumphieren. Und nicht nur er, sondern auch das Gesicht der Revolution steht auf dem Spiel. Die entscheidende Frage ist heute nicht mehr, ob Assad fällt. Die entscheidende Frage ist vielmehr, welche staatliche Ordnung sich in einem nach-baathistischen Syrien etablieren könnte und ob es die radikalislamischen Kräfte aus dem Ausland schaffen, die Revolution zu kidnappen und dem neuen Syrien ihren Stempel aufzudrücken. Werden die Syrer stark genug sein, um mit dieser neuen Herausforderung fertig zu werden? Der Sturz des Regimes ist angesichts der militärischen Lage nur noch eine Frage der Zeit. Aus Sicht Assads ist die Schlacht um Aleppo eine Endschlacht. Die Schlacht um die Gestaltung des neuen Syriens jedoch, hat gerade erst begonnen.